Veröffentlicht am: 16.04.2019
Interview: Marcus Heide
Foto: Dr. Jens Hoffmann
Dr. Jens Hoffmann
Dr. Jens Hoffmann führt das Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement, das seit über zehn Jahren erfolgreich Präventionskonzepte für den beruflichen Alltag verschiedener Branchen und Wirtschaftszweige entwickelt und vermittelt. Seit Mai 2002 hat der studierte Psychologe einen Lehr- und Forschungsauftrag an der Arbeitsstelle für Forensische Psychologie der Technischen Universität Darmstadt. Dort wurde unter seiner Leitung das „Dynamische Risiko Analyse System“ (DyRiAS) entwickelt, das es möglich macht, wissenschaftlich fundierte Risikoeinschätzungen für schwere Gewalt und Amok an Schulen und Gewalt an Intimpartnern zu treffen.
Kampf oder Flucht
Marcus Heide im Interview mit
Dr. Jens Hoffmann · Leiter des Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement, das seit über zehn Jahren erfolgreich Präventionskonzepte für den beruflichen Alltag verschiedener Branchen und Wirtschaftszweige entwickelt und vermittelt.
Bespuckt, beschimpft, geschlagen: Der erstmals von der gesetzlichen Unfallversicherung VBG veröffentlichte Sicherheitsreport zur Analyse des Unfallgeschehens in der Sicherheitswirtschaft zeigt eine dramatische Zunahme von Arbeitsunfällen durch Konfrontation, nämlich eine Verfünffachung innerhalb von 30 Jahren. Von den im Jahr 2017 registrierten 4.000 „Konfrontationsunfällen“ entfallen über 95 Prozent auf sechs Einsatzgebiete: Warenhäuser, ÖPNV, Erstaufnahme- und Flüchtlingsunterkünfte, Events und Diskotheken sowie Jobcenter und zunehmend auch Krankenhäuser.
Marktplatz Sicherheit: Herr Dr. Hoffmann, immer häufiger werden Rettungssanitäter, Feuerwehrleute und auch Wachleute im Einsatz angegriffen. Ist die Gesellschaft gewalttätiger geworden?
Dr. Jens Hoffmann: Es stimmt, dass es beispielsweise in Behörden oder Kliniken mehr Angriffe auf das Personal gibt. Gesamtgesellschaftlich betrachtet, nimmt jedoch die Gewalt nicht zu. Das zeigen die einschlägigen Statistiken. Allerdings lässt sich beobachten, dass die Aggression wächst.
Was ist der Unterschied?
Aggression ist in der Psychologie ein auf Angriff ausgerichtetes Verhalten, das auf einen Machtzuwachs des Angreifers beziehungsweise eine Machtverminderung des Angegriffenen zielt. Es ist also eine mögliche Vorstufe des physischen Angriffs. Das erleben wir im Alltag immer häufiger, aber offensichtlich haben sich die Leute dann doch so weit im Griff, dass sie eben nicht körperlich angreifen und damit gewalttätig werden.
Der Grund für die wachsende Aggression?
Darüber ist sich die Fachwelt noch nicht einig. Aber anscheinend stehen die Menschen zunehmend unter Druck, den sie irgendwo ablassen müssen. Und da sind Autoritätspersonen, die den Staat repräsentieren, oder eben auch Wachleute, die ja eine bestimmte Ordnung oder Vorschriften durchsetzen sollen, die klassischen Adressaten. Es gibt Anzeichen dafür, dass auch die Sozialen Medien und die hier herrschende Kommunikationsdynamik eine wichtige Rolle spielen. Kritik an (vermeintlichen) Missständen schaukelt sich hoch. Wahrgenommen werden nur noch Meinungen, die der eigenen entsprechen. Hinzu kommen die Freude am Spektakel sowie mangelnde Hemmung angesichts von Anonymität oder schlichtweg physisch abwesenden Kommunikationspartnern. Und ein anderes Phänomen lässt sich besonders in Deutschland beobachten: Viele Menschen konzentrieren sich fast ausschließlich auf das Negative und befürchten den Untergang von Staat und Gesellschaft. Die „German Angst“ ist so aktuell wie nie. Kein Wunder also, dass die Menschen zunehmend unter Dampf stehen und verzweifelt sind.
Fühlt man sich denn besser, wenn man andere beschimpft, beleidigt, bespuckt und schlägt?
Das evolutionstheoretisch uralte Reaktionsmuster des Menschen lässt für Verzweiflung und Ausweglosigkeit letztlich nur zwei Möglichkeiten zu: Kampf oder Flucht. Letztere ist für das Umfeld eher unproblematisch. Aber bei „Kampfbereitschaft“ wird es auch deshalb schwierig, weil sich das Verhalten ändert: Der Betroffene wird aggressiv, folgt nur noch einer selektiven Wahrnehmung, wird immer lauter, gestikuliert stärker, wechselt vielleicht die Gesichtsfarbe, ballt die Fäuste. Das lässt seinem Gegenüber wiederum ebenfalls nur die zwei Möglichkeiten von Kampf oder Rückzug. Wenn sich dann beide für den Kampf entscheiden, wird’s natürlich gefährlich.
Wie lässt sich das verhindern?
Mit deeskalierendem Verhalten – das sich im Übrigen erlernen lässt. Dazu gibt es jede Menge einschlägiger Seminare und Trainings, auch bei uns.
Umreißen Sie doch mal kurz, wie man deeskaliert?
Das hängt davon ab, ob man auf eine „heiße“ oder „kalte“ Erregung reagieren muss. Der heißen Erregung, die sich beispielsweise durch lautes Sprechen, aggressive Formulierungen und starke Gestikulation bemerkbar macht, begegnet man am besten freundlich, höflich und dahingehend bestimmt, dass man Grenzüberschreitungen nicht hinnimmt. Ignorieren sollte man die Erregung nicht, sondern wahrnehmbar und kooperativ darauf reagieren, etwa mit der Frage „Was ist denn los?“ Wenn sich der Aggressor nicht beruhigt, sollte man durchaus die berühmte „Armlänge“ Abstand nehmen, sich aber weiterhin kooperativ zeigen: „Ich möchte Ihnen helfen, aber kehren Sie bitte zu einem ruhigeren Gesprächston zurück.“ Wenn die Zeichen weiterhin auf Sturm stehen, ist es oft die beste Option, den Rückzug anzutreten und Hilfe zu holen.
Wie steht es mit der „kalten“ Erregung?
Die kalte Erregung zielt auf Provokation. Der Gegenüber ist ruhig, lächelt vielleicht sogar und haut Ihnen in ruhigen Worten Dinge um die Ohren, die Sie auf die Palme bringen sollen. Genau diese Reaktion sollten Sie aber nicht zeigen, sondern völlig unbeeindruckt bleiben. Benennen Sie die Konsequenzen, wenn das so weiter geht, und erbitten Sie in bestimmtem Tonfall konstruktives Verhalten. Erfolgt das nicht, beenden Sie das Gespräch.
Es fällt bestimmt nicht jedem leicht, klein beizugeben.
Es ist niemandem geholfen, wenn man in einer solchen Situation seinem Ego zu viel Raum gibt. Die Natur hat uns die Flucht als Handlungsalternative zur Verfügung gestellt und sie kann die beste Strategie sein, um sich selbst und andere zu schützen. Man ist auch kein Schwächling, wenn man die Polizei holt. Die sollte dann aber auch den Eindruck haben, dass die Wachleute gut ausgebildet sind und bei einem gut organisierten Unternehmen arbeiten. Das ist bekanntlich im Sicherheitsgewerbe, wo der Preis immer noch oft genug das einzige Kriterium für die Auftragsvergabe ist, nicht immer der Fall.
Wachleute befinden sich allerdings in einer anderen Rolle als Polizisten oder Feuerwehrleute. Um ihre gesellschaftliche Akzeptanz ist es nicht zum Besten bestellt. Wie kann man trotzdem Autorität darstellen?
Auch das lässt sich lernen. Ich habe schon Hausmeister und Bademeister geschult, die ja nun ebenfalls nicht immer große Achtung genießen. Nach der Schulung ist die Akzeptanz gewachsen. Schon mit einem Zwei-Tages-Training und einfachster Didaktik kann man viel erreichen. Saubere Uniform, kultiviertes Auftreten, Körperhaltung – das alles spielt ebenfalls eine große Rolle. Vieles lässt sich am Arbeitsplatz und in Rollenspielen üben, der gegenseitige Austausch ist wichtig. Ich beobachte inzwischen bei vielen Arbeitgebern eine wachsende Sensibilität für dieses Thema und die Bereitschaft, dafür auch mal Geld in die Hand zu nehmen. Beispiel Behörden: Früher wurde ausschließlich auf Technik und Vorschriften gesetzt, Freundlichkeit war kein Umgangskriterium. Das ist heute anders. Auch was die Büroräume angeht: Pflanzen, Licht, Wasserspender – man bekommt das Gefühl, als Mensch wahrgenommen zu werden. Und das wirkt sich natürlich auch auf die Bürger aus, die mit ihren Anliegen zur Behörde kommen.
Pflanzen, Licht und Wasserspender gehören nun nicht gerade zur Standardausstattung dort, wo Wachleute arbeiten. Aber die Ausbildung umfasst natürlich bestimmte Verhaltenstrainings. Zum Rahmenplan für die „Geprüfte Schutz- und Sicherheitskraft“ gehört beispielsweise die Anwendung von Techniken zur Konfliktvorbeugung und Deeskalation. Für Empfangsmitarbeiter gibt es Konzepte für das Konfliktmanagement. Ob das für die Praxis genügt?
Das kann ich nicht beurteilen. Das ist vielfach sowohl eine Führungsfrage als auch die Frage des Konzepts. Es genügt sicherlich nicht, mal eben in der Ausbildung ein paar Stündchen zu deeskalieren. Es muss im Sicherheitsunternehmen eine Strategie vorliegen, an denen sich die Mitarbeiter orientieren können, gegebenenfalls separat definiert für jeden Einsatzort und die Herausforderungen. Konzertbesucher verhalten sich anders als Schwarzfahrer in der U-Bahn oder Demonstranten vor dem Haupteingang eines Energieversorgers.
Oder die Bewohner eines Flüchtlingsheims?
Natürlich kann interkulturelle Kompetenz hilfreich sein. Aber gerade bei der Flüchtlingsthematik werden die kulturellen Unterschiede regelmäßig überschätzt und die Gemeinsamkeiten unterschätzt. Die Grundprinzipien menschlichen Verhaltens sind überall gleich – und entsprechend müssen die Reaktionen auf bestimmtes Verhalten ebenfalls gleich sein. Das gilt auch für die Deeskalation.